Über die Bedeutung des Wortes ‘Sufismus’:
Das Wort ‘Sufismus’ ist eine ziemlich ungückliche Übersetzung, denn das Suffix ‘ismus’ scheint eine festgelegte Ideologie zu implizieren. Sufismus geht in seinem Wesen über Ideologie hinaus. Das Wort ‘Sufismus’ ist eine Übersetzung für ein arabisches Wort, das ganz wörtlich bedeutet: ‘ein Sufi werden’.
Dann erhebt sich die Frage,- wenn Sufismus darin besteht, ‘ein Sufi zu werden’, was wird man da? Was ist ein Sufi? Dies war eine oft gestellte Frage, als das Wort ‘Sufi’ vor vielen Jahrhunderten in Umlauf kam, und die Sufis selbst beantworteten sie auf sehr verschiedene Weise. Manchmal wurde gesagt, ein Sufi ist ‘einer, der gut atmet’. Jemand anderer sagte, dass der Sufi ‘der Sohn oder die Tochter des Augenblicks’ sei. Und wieder ein anderer sagte, ein Sufi sei ‘wie ein Kind am Busen Gottes’.
All diese Definitionen lenken unsere Aufmerksamkeit auf eine innere Haltung nicht auf eine äussere Identität, nicht eine Ideologie, sondern auf eine Gegenwart, und das ist es, was der Sufismus lehrt.
Über die Beziehung zwischen Sufismus und Islam:
Beim Islam selbst können wir unterscheiden zwischen dem so etikettierten Islam und einem Islam als Oberbegriff. Der Heilige Qur’an selbst verweist auf eine Vielzahl von Propheten. Es heisst: “Wir haben einen Propheten in jede Gemeinschaft entsandt”. Und in der Hadith-Literatur d.h. in der Überlieferung der Äusserungen des Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm, ist die Rede von 124000 Botschaftern. All diese waren Boten einer einzigen göttlichen Botschaft, und diese göttliche Botschaft ist Islam im umfassenden Sinne, die essentielle Religion, die allen existierenden religiösen Formen innewohnt, einschliesslich derjenigen Form, die wir ‘Islam’ nennen, die in Wirklichkeit die Mohammedanische Version von Islam ist. Das ist Islam als Träger eines eingebürgerten Namens.
Der Sufismus hat eine tiefe, wesentliche Verbindung sowohl mit dem Islam im übergreifenden Sinne, mit universaler Religiosität, welche die gemeinsame Dimension der Tiefe menschlicher Erfahrung ist, die in der Tiefe aller Weltreligionen gefunden werden kann und die zurückgeführt werden kann auf die frühesten Propheten. Und Sufismus als historisches Phänomen hat ebenso eine besondere Verbindung mit dem System der islamischen Religion, welche eine Form unter vielen Formen von ‘risala’, der Botschaft darstellt.
Über die Einführung des Sufismus in den Westen:
Mein Grossvater Pir-o-Murshid Hazrat Inayat Khan war der Erste, der Sufismus in der westlichen Welt gelehrt hat. Er studierte unter Anleitung seines eigenen Murshid [Lehrers] Sayyid Abu Hashim Madani. Und am Ende seines Lebens blickte Sayyid Madani in seine Augen und sagte: “Geh hinaus in die Welt und verbreite die Weisheit des Sufismus. Vereinige Ost und West im Bewusstsein der Einheit des Seins.”
Im Jahre 1910 segelte mein Grossvater mit seinen Brüdern von Bombay los und gelangte in die Vereinigten Staaten. In den ersten Jahren, so sagte er, war er mehr damit beschäftigt zu lernen als zu lehren. Er wollte nicht lediglich eine fremde Lehre auf die Menschen dieses Landes übertragen, sondern erstrebte im Gegenteil ein möglichst tiefes Wissen von den Bedürfnissen dieser Menschen, ihren Berufungen und Bestrebungen, um die Psyche der westlichen Welt zu verstehen.
Er heiratete eine westliche Frau, und allmählich entfaltete er seine Lehre als Antwort auf die Bedürfnisse, die er in den westlichen Menschen wahrnahm. Eine Anzahl von Schülern zog es zu ihm hin, und schliesslich schuf er eine Organisation, die er den Sufiorden im Westen nannte, welcher die Abstammungslinie des Sufismus repräsentierte, die er geerbt und fortgesetzt hatte. Sie repräsentierte die Botschaft von der Bruderschaft der Menschheit, der Geschwisterlichkeit aller menschlichen Wesen in der grösseren Familie der Menschheit, die Erkenntnis, dass alle Nationen und Religionen Organe eines einzigen Körpers sind, und dieser Körper ist der Körper der Menschheit; nur wenn alle Organe in Harmonie tätig sind, wird die Gesundheit der Menschheit ihre ideale Form erreichen.
Pir-o- Murshid sagte, dass jede Religion eine Note zum Klingen gebracht hat, aber indem der Erdball sich in einer einzigen Zivilisation vereinigt hat, gibt es eine Gelegenheit für all die Noten zusammenzuklingen, auf dass wir die Sinfonie der Botschaft hören mögen, die jede einzelne Note übersteigt und die Fülle der menschlichen Erfahrung über die Jahrtausende repräsentiert.
Über das Lehren von Sufismus:
Die Überlieferung der esoterischen Schule des Sufismus wird von Herz zu Herz weitergegeben, vom Lehrer auf den Schüler, und sie kann nur vollständig empfangen werden durch die tiefe Verbindung, welche zwischen zwei menschlichen Herzen existiert, die tief aufeinander eingestimmt sind. Als mein Grossvater seine anfängliche Einweihung durch seinen Murshid empfing, lud ihn dieser in sein Haus ein, und mein Grossvater pflegte ihn täglich zu besuchen. Monatelang sassen sie beisammen, und sein Murshid redete über die allergewöhnlichsten Dinge, lokale Ereignisse, das Wetter, usw. Erst nach vielen Monaten begann sein Lehrer über esoterische Themen in der Terminologie der Sufis zu sprechen. Als mein Grossvater dies hörte, war seine Neugier geweckt und er zog sein Notizbuch hervor. Und sobald er dies sah, wechselte sein Murshid ebenso schnell das Gesprächsthema und kehrte zu weltlichen Angelegenheiten zurück.
Mein Grossvater sagte immer, er lernte, dass die Lehre auf die Tafel des Herzens diktiert werden muss; sie kann nicht im Verstand empfangen werden. Sie muss in der tiefsten Dimension unseres Wesens assimiliert werden, und dies geschieht durch die Einstimmung auf den Lehrer. Und der Lehrer ist auf seinen Vorgänger eingestimmt worden, der sich wiederum auf seinen eingestimmt hatte, und das über die Generationen, über die Jahrhunderte hinweg bis zurück auf den Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm, und durch den Propheten Mohammed auf die früheren Propheten, auf Isa le Isalam, Jesus Christus, und auf den Propheten Moses – Friede sei mit ihm, und den Propheten Abraham. Und die Propheten all dieser Religionen bilden eine einzige Hierarchie, welche die göttliche Botschaft repräsentiert, die übermittelt und durch die Kanäle der esoterischen Orden geschleust wird mittels der Verkörperung des Murshid, des Lehreres, und auf diese Weise den Aspiranten erreicht.
Über den Inayatiyya-Orden:
Nach den Hadith – den Überlieferten Aussprühen des Propheten Mohammed, gibt es so viele Wege zu Gott, wie es Atemzüge gibt. Und innerhalb des Sufismus gibt es eine Vielfalt von Herangehensweisen an das Ritual, die meditative Übung. Dies sind Lehrtraditionen, die sich aus der Weitergabe vom Lehrer an den Schüler entwickelt haben. Viele Lehrer haben mehr als einen Schüler, und viele von diesen Schülern empfangen die volle Übertragung des Wissens und werden selbst zu Lehrern. Die Traditionslinie verzweigt sich wie ein Baum. Jeden Zweig könnte man als einen Orden beschreiben, der gewisse gemeinsame Merkmale hat, bestimmte gemeinsame Formen der Rezitation, der rituellen Anrufung Gottes. Und doch teilen sie alle die elementaren, die grundlegenden Werte, welche die Essenz des Sufismus sind.
Über besondere Sufi-Praktiken:
Die wesentliche Übung im Sufismus ist ‘Dhikr’, was Erinnerung bedeutet – Gedenken Gottes, der Quelle und des Ziels aller Wesen, Erinnerung an unser wahres Zuhause. Dieses Gedenken wird auf rituelle Weise praktiziert in der Anrufung göttlicher Namen und besonders in der Rezitation “La ilaha illa ‘llah”, “Es gibt keine Gottheit ausser dem einen Gott”. Diese Rezitation erinnert uns daran, dass all unsere subjektiven Konzepte hinsichtlich unserer selbst, hinsichtlich der Natur des Universums, relativ sind. Die eine Realität schliesst all solche relativen Begriffsbildungen mit ein, aber sie übersteigt sie zugleich und lässt sie hinter sich zurück. Das ist es, was wir ‘Allah’ nennen, die eine Wirklichkeit, das wahre Wesen, das Absolute.
Dieses Eine Wesen wird in Erinnerung gerufen durch Akte der Rezitation, wiederholte Rezitation verbunden mit Bewegung, mit Koordination des Atems, manchmal mit Visualisierung, unter Verwendung dieses Sprechgesangs “La ilaha illa ‘llah” und Varianten davon sowie anderen Anrufungen des Göttlichen.
Auf der ersten Stufe rezitiert man den Namen Gottes mit der Stimme, aber der Geist mag dabei abwesend sein, das Herz ist vielleicht nicht eingestimmt. Auf der zweiten Stufe, wenn man an der Übung festhält, mag man das Stadium erreichen, wo die stimmliche Rezitation weitergeht, der Geist sich zu konzentrieren beginnt und auch das Herz allmählich in Einstimmung gelangt. Auf der dritten Stufe gibt es vollkommene Symmetrie. Die Stimme rezitiert. Der Geist ist konzentriert. Das Herz ist eingestimmt. Die Übung geschieht in Einheit. Auf der vierten Stufe gibt man die stimmliche Übung auf. Man kehrt in die Routine des täglichen Lebens zurück, aber das Herz macht den Dhikr weiter, verweilt im Gedenken.
Es ist von höchster Wichtigkeit, eine direkte Beziehung zu einem spirituellen Wegbegleiter zu haben, denn der Pfad eines jeden von uns ist charakteristisch für eben diese Person. Wir beginnen mit unserer eigenen Konditionierung, die bei jedem von uns anders ist, und das ist der Ort auf dem Weg, von dem aus wir uns einschiffen. Die Probleme, die auftauchen, wenn wir den Pfad beschreiten, gehören zu ihm. Sie sind die Substanz des Weges selbst. Der Pfad existiert nicht ausserhalb von uns. Er existiert in uns. Und den ganzen Weg entlang sind all die Widerstände, all die Ängste, all die Gefühle von Unzulänglichkeit, all das Begehren nicht etwas, das vom Pfad getrennt wäre. Sie sind die pure Substanz der Arbeit. Wie wir mit dem arbeiten, was durch das Selbst hindurchkommt, das ist die Substanz des spirituellen Pfades.
Es gibt eine gemeinsame Basis von Psychotherapie und spiritueller Arbeit. Wenn es einen Unterschied gibt, dann den, dass die spirituelle Arbeit des Sufismus eine transzendente, transpersonale Dimension einschliesst. Und man muss natürlich sehen, dass in der Psychotherapie Menschen arbeiten, welche die transpersonalen Dimensionen anerkennen und mit ihnen arbeiten, das ist transpersonale Psychotherapie. Und besonders dort gibt es enorme Gemeinsamkeit.
Über Religion, Philosophie und Meditation:
Sufismus ist auf grundlegende Weise erfahrungsorientiert. Er basiert nicht auf intellektuellen Prämissen. Er gründet in direkter, persönlicher Erfahrung. Und so streben wir nicht danach, die Wahrheit durch Bücherwissen zu entdecken, sondern vielmehr dadurch, dass wir das Manuskript unseres eigenen Selbst lesen und dadurch zu einer unmittelbaren Erfahrung gelangen. Jeder Glaube, der nur auf Nachdenken beruht, wird einem Zweifel unterworfen sein, wenn die Theorie, auf der er basiert, in Frage gestellt wird. Es gibt aber eine essentielle Überzeugung, die aus unmittelbarer innerer Erfahrung entsteht, wenn das mystische Erleben von solcher Intensität ist, dass es greifbarer ist als die äussere Welt, welche die Quelle unserer Konsens-Realität darstellt. Wenn diese Realisierung erfahren wird, gelangt man zu einer Ebene des Überzeugtseins, die den Glauben konventioneller Religion hinter sich lässt, der darin gründet, auf eine bestimmte Weise aufgewachsen zu sein und daher bestimmten Glaubenssätzen anzuhängen.
Dies ist ein Glaube, der auf persönlicher Erfahrung basiert, und in der Meditation hat man solch eine Erfahrung. Man ist in der Lage, Zugang zu Dimensionen seines Wesens zu bekommen, die das Physische übersteigen. Und auf diese Weise erkennt man die Ewigkeit einer bestimmten Weise des eigenen Seins, und daher braucht man nicht länger zu fragen oder darüber zu diskutieren, ob es ein Leben nach dem Tod gibt oder ob eine höhere Intelligenz existiert.
In unserer konventionellen, routinehaften Art zu leben ist uns nur ein sehr kleiner Randbereich von der Totalität unseres Wesens zugänglich. Wir leben auf der äussersten Oberfläche des Lebens. Durch Meditation haben wir Zugang zu tieferen Ebenen, tieferen Ebenen sogar innerhalb unseres physischen Organismus, zum elektromagnetischen Feld, der Aura, und tieferen Ebene unserer eigenen Psyche, Ebenen des Bewusstsein, die unsere individualisierte, egozentrische Identität transzendieren.
Wenn wir durch Meditation in diese Dimensionen gelangen und aus erster Hand eine direkte, unmittelbare Erfahrung von Präsenz haben, dann besitzen wir ein Wissen, das nicht auf Ideologie gründet. Es gründet nicht auf Bücherwissen. Es basiert nicht auf kultureller Anpassung.
Die im Sufismus fundamentale Art zu wissen wird ‘Wissen durch Präsenz’ genannt. Alle andere Kenntnis ist Wissen durch Entsprechung, was sich auf begriffliches Wissen bezieht. Aber begriffliches Wissen muss selbst in einem fundamentalen epistemologischen Akt gründen, und dieser ist Wissen durch Präsenz, die Erkenntnis der Unmittelbarkeit, der direkten Erfahrung, des Einswerdens von Zeuge und Bezeugtem. Dies ist die wesentliche Erfahrung in den Tiefen der Meditation. Dies gibt einem eine Überzeugung, die unerschütterlich ist.
Über die Sufi-Familie:
In unserem Orden haben wir Hunderte von Repräsentanten. Es gibt Zentren in jedem Bundesstaat dieses Landes [USA], und jeder Repräsentant ist vollkommen authorisiert und ermächtigt, die Sufibotschaft zu repräsentieren. Und zugleich habe ich eine besondere Verantwortung als derjenige, der auf dem Gebetsteppich des Vorgängers sitzt. Meine Verantwortung besteht darin, das Ganze zu koordinieren und die grundlegende Integrität der wesentlichen Überlieferung aufrechtzuerhalten.
Über den Sufismus und andere Religionen:
Meine Grossvater hat die Sufibotschaft als ein essentielles Bewusstsein vorgestellt, das im Wesen all der grossen Weltreligionen entdeckt werden kann. Es ist der gemeinsame Strang mystischer Erkenntnis, der alle prophetischen Sendungen vereint.
Das wurde in der Geschichte des Sufismus anerkannt. Der Prinz Dara Shaku, welcher der gesetzliche Erbe seines Vaters Sha Jihan war, des grossen Mogul-Königs, schrieb ein Buch namens MAJ HAMU AL BAHRAIN, was ‘die Fusion der zwei Ozeane’ bedeutet, ein Ozean ist der Islam, der andere der Hinduismus. Er stellte eine vergleichende Untersuchung an und gelangte zu der Schlussfolgerung, dass im Kern die gemeinsame Erkenntnis beider die Einheit des Seins war. Sie hatten verschiedene Terminologien, verschiedene Systeme der praktischen Ausübung, aber es gab eine essentielle Einheit.
Ich glaube, dass essentielle Einheit in allen religiösen Traditionen entdeckt werden kann. Sie ist der gemeinsame Strang der Tiefe menschlicher Erfahrung auf diesem Planeten, und sie ist universell, absolut universell. Sie transzendiert all die Unterschiede der Akkulturation, der Ideologie. Es gibt etwas Essentielles am voll entfalteten Menschsein, und im Wesen des menschlichen Daseins liegt eine Beziehung zum Göttlichen.
Die Sufibotschaft ruft uns dazu auf, diese Beziehung – in welcher äusseren Form auch immer – zu kultivieren, im Rahmen jeder beliebigen Religion. Jede Religion ist eine Fügung der Vorsehung, die dazu dienen kann, uns mit einer inneren Öffnung gegenüber der Wahrheit zu versorgen.
In dieser Zeit, in der wir leben, hat es ein globales Erwachen gegeben. Die Welt kommt zusammen auf eine Weise, die nie zuvor möglich gewesen war. Es erscheint auf der einen Seite die Aussicht – die Gefahr – einer Vereinheitlichung auf dem Niveau der Homogenität, wenn nicht sogar der Uniformität. Auf der anderen Seite erscheint die Aussicht auf eine Einheit in Vielfalt, ein Erkennen der gottgewollten Natur der Mannigfaltigkeit der religiösen Formen, aber zugleich erwachend zur essentiellen Einheit, die diese Formen durchdringt und ihnen zugrundeliegt.
Das ist das wesentliche Ziel der Sufibotschaft in unserer Zeit, die Segmente der Menschheit zu vereinen, die wie die Organe eines einzigen Körpers sind, der zerstückelt wurde und sich wieder vereinigen muss unter der Führung des Herzens, um als ein einziger Körper zum Wohl der Gesundheit all der verschiedenen Teile tätig zu sein. Das ist die Botschaft, die in diesem Zeitalter zu Gehör kommen muss.
Pir Zia Inayat Khan (aus: Religions & Ethics, November 2002 Übersetzung von Kaivan)