Ich erhebe nicht den Anspruch, über die Silsila umfassendes Wissen zu besitzen, aber ich habe eine gründliche Studie gemacht über die Wesen dieser Tradition und die Tradition selbst, um besser zu verstehen. Mein Gefühl ist, dass es sehr hilfreich ist zu wissen, wer wir waren, um zu wissen, wer wir sind und wohin wir gehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir bloss eine Art von Nostalgie für eine Goldene Zeit entwickeln und diese verlorene Goldene Zeit wieder heraufbeschwören sollen, wie es, glaube ich, einige tun. Aber wir können von unserer Vergangenheit lernen. Wenn wir einige Jahrhunderte zurückblicken, können wir vielleicht eine Ursache für das entdecken, was wir jetzt tun. Das kann dem, was wir jetzt tun, entweder mehr Bedeutung geben oder uns einfach sagen, dass die Zeit dafür vorüber ist.
Wenn wir die Liste unserer Silsila ansehen, mag das sowohl positive als auch negative Empfindungen hervorrufen. Die positiven Gefühle betreffen das, was Hazrat Inayat Khan selbst in “A Sufi Message of Spiritual Liberty” erwähnt (1). Er sagt, die Silsila sei wie ein Strom von Energie, der über all die Jahrhunderte in Bewegung gehalten wurde; ein Strom, an den viele Lampen angeschlossen wurden, und indem wir uns selbst diesem Strom anschliessen, erhalten wir die ganze Kraft dieser Energie, zu der wir isoliert davon keinen Zugang hätten. Für viele von uns ist das Bewusstsein, dass wir an diesen Strom angehängt sind, eine Quelle grosser Kraft und Vitalität.
Es gibt auch einige negative Empfindungen, denke ich. Wenn man diese Liste betrachtet, sieht man einerseits eine einzige Auflistung von Autoritätspersonen. Es scheint völlig hierarchisch und elitär zu sein. Dazu möchte ich sagen, dass es sehr wichtig ist zu verstehen, dass dies in Wahrheit ein Teil der Silsila ist, nicht die Silsila selbst. Sie wissen, das Wort ‘silsila’ bedeutet Kette, und im Übertragenen Sinn eine Überlieferungskette, eine Kette von Herz zu Herz.
Nach meiner Auffassung ist jedoch der Begriff ‘shajara’ hilfreicher. Ich habe solche Diagramme tatsächlich gesehen, die den ganzen Baum, die ganze Verzweigung darstellen. Im Islam gibt es die Nachfolge der Khalifen, die exoterische Nachfolge, die theokratische Nachfolge des Propheten durch die Khalifen und danach verschiedene Dynastien von Königen, die ihre Souveränität durch die Nachfolge des Propheten begründeten. Innerhalb dieser Dynastien gab es immer das Modell einer linearen Nachfolge; einer nach dem anderen.
In der esoterischen Khilafa, in der spirituellen Nachfolge, hat man immer die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit mehrerer Nachfolger ins Auge gefasst, eine Verzweigung an jedem Punkt. Wenn man diese Silsila hier also betrachtet, dann muss man in Rechnung stellen, dass jeder dieser Vertreter zusätzlich zu einer grösseren Anzahl von Murids auch eine gewisse Anzahl von Repräsentanten hatte, von denen jeweils eine Verzweigung ausging. Alle diese Verzweigungen sind ineinander verwoben. Es heisst ja auch die khângân, die Chishti Familie. Es ist also tatsächlich nicht eine lineare Nachfolge, sondern eine grössere Familie.
Im Fall unseres Ordens ist es so, dass Hazrat Inayat Khan viele Khalifas hatte. Jeder Khalifa vertritt die Linie und hat seine eigene Silsila. Das hat Bedeutung für unsere Beziehung mit anderen Sufigruppen, die von Hazrat Inayat Khan abstammen. Sie haben auch ihre Silsila durch Hazrat Inayat Khan, und unsere Silsila ist kein Widerspruch zu ihrer. Das gilt auch für diese Generation; mein Vater hat so viele Repräsentanten, und ein Repräsentant ist ein Khalifa. Das Wort Repräsentant ist tatsächlich die bestmögliche Übersetzung des Wortes Khalifa. Das Wort Khalifa selbst geht natürlich auf den Qur’an zurück. Der Mensch, insan, ist der khalifatu llah fi-l-ard, der Repräsentant Gottes auf Erden.
Der zweite negative Aspekt betrifft einen sehr bedeutsamen Punkt: tatsächlich ist die Silsila eine Liste ausschliesslich von Männern. Sogar wenn man die anderen Linien betrachtet, die mit dieser verwoben sind, findet man stets Listen von Männern. Wie ich bereits sagte, das Studium des klassischen Sufismus führt uns zu neuen Perspektiven für unsere Arbeit und auch zu einer grösseren Wertschätzung unseres eigenen Beitrags und für die Weiterentwicklung, die unser heutiges Denken darstellt. Manchmal waren die Sufis dem Denken ihrer Zeit und Kultur voraus. Im Allgemeinen war die Kultur, in der sich ihr Denken entwickelte, eine, in der Frauen keine öffentliche Aufgabe hatten. In vielen Fällen haben traditionelle Sufis nur das konventionelle Denken bestätigt. In anderen Fällen haben Sufis die Konventionen jedoch hinter sich gelassen und wagemutig Neuerungen zugelassen. Unglücklicherweise jedoch sind sie dort, wo es um die Tradition des institutionellen Sufismus geht, einen Kompromiss eingegangen und haben sich an die Bedingungen der Kultur gehalten, in der sie sich bewegten und in der sie lebten. Und damals war es Frauen kulturell nicht möglich, am sozialen Leben teilzunehmen, wenn das bedeutete, mit Männern zusammenzukommen, die nicht zu ihrer Verwandtschaft zählten.
Es war eine streng geregelte Gesellschaft, und das ist nicht nur so gewesen in der mittelalterlichen muslimischen Welt, sondern auch in der mittelalterlichen europäischen Welt. Das mittelalterliche Patriarchat in Ost und West, das gab es damals nicht nur im Islam. Wir nehmen unsere eigene Gesellschaft als gegeben, so als ob es immer schon so gewesen wäre, und vergessen, dass das eine sehr junge Entwicklung ist. Anstatt die Dinge zu beschönigen, gebe ich ganz offen zu, dass die Tradition im Sufismus so war, dass Männern die Rolle des Khalifa gegeben wurde, Frauen aber nicht. Wir müssen das bedenken in unserem Bild von der Vergangenheit. Aber ich glaube, das bedeutet nicht, dass wir deshalb die Männer, die diese Rolle annahmen, gering schätzen sollen. Wo immer es jedoch möglich ist, sollten wir uns der grossen Frauen erinnern, und wenn man genau schaut, findet man Bedeutsames. Ich werde versuchen, das in meinen Vorträgen zu berücksichtigen.
Das Diagramm der Silsila scheint auch eine Frage aufzuwerfen, die oft gestellt wird: ob Sufismus dem Islam vorausging oder eine Entwicklung des Islam ist. Beginnen wir mit Hazrat Inayat Khans eigenen Worten. Er sagt z.B. in “The Sufi Message of Spiritual Liberty”, dass es zu allen Zeiten und an allen Orten Sufis gab. Natürlich, wenn man die Frage stellt, ob man ein Sufi sein kann, ohne Muslim zu sein, wirft das wiederum die weitere Frage auf: was ist ein Muslim? Im Qur’an heisst es, dass Hazrat Musa (alaihi s-salam), Moses, sallama, Islam praktizierte. Der Qur’an anerkennt Propheten bis hin zu Adam, dem ersten Menschen. Nach dem Qur’an geht der Islam zurück bis zum Beginn der Menschheit, so wie die Möglichkeit, Muslim zu sein, sich Gott zu ergeben, auch bis in diese Zeit zurückreicht. Tatsächlich ist der Name für das, was wir jetzt Islam nennen, Din-i Muhammadi. Wenn man also fragt, ob man ein Muslim sein muss, um Sufi zu sein, dann sollte man diese Frage vielleicht besser so stellen, ob man ein Anhänger des Dîn-i Muhammadî sein muss. Nun, sagen wir so: die Kategorie Muslim ist eine viel weitere Kategorie. In der Geschichte der Chishtiyya findet man, dass der erste Sufi Seth (alaihi s-salam) war, der Sohn Adams und Evas. Adam und Eva stellen den allerersten menschlichen Archetypus dar, der noch nicht in verschiedene Identitäten verzweigt war. In der nächsten Generation nahmen die Kinder verschiedene Rollen an; einer wurde Bauer, einer Viehzüchter, und jeder nahm einen anderen Beruf in der Welt an. Seth wurde Mystiker und praktizierte Meditation, und die anderen Kinder von Adam und Eva kamen zu ihm und fragten ihn um Rat, und er weihte sie ein. In der Chishtiyya gibt es also eine sehr klare Tradition dafür, dass der Sufismus sehr alte Wurzeln hat.
(1) ebd., Sufismus.
Hier gibt Hazrat Inayat Khan auch einen Hinweis darauf, warum die Sufis erst nach dem Propheten Muhammad als solche allgemein bekannt wurden: “So wie die Sufis von allen Propheten und Meistern geistige Unterweisung erhalten hatten, bekamen sie diese auch vom Propheten Muhammad. Die Offenheit von Muhammads wesentlichen Lehren ebnete ihnen den Weg, in der Welt hervorzutreten.”
Pir Zia Inayat Khan (Übersetzung aus dem Englischen von Zumurrud Butta)